Bestrafung und Belohnung – Nein danke!
Es ist für mich ein Geschenk, meine Kinder auf ihrem Lebensweg begleiten zu dürfen. Es ist eine Ehre sie zu lehren und mit und von ihnen zu lernen. Gemeinsam auf unserem Weg entdecken wir allerlei Tiere, riechen an Blumen, spüren die Sonne im Gesicht und den Wind in den Haaren und tanzen durch den Regen. Ich biete meine Hand an, wenn mein Kind über Steine klettern möchte. Wenn es sie nicht will und trotzdem umfällt, helfe ich ihm wieder aufzustehen. Wenn es auf die Schnellstrasse springen will, halte ich es fest. Bei einer Weggabelung wählen wir gemeinsam den Weg, den wir gehen möchten. Welchen Weg wir wählen, hängt davon ab, was wir erleben möchten. Mit dem Kickboard über einen Kiesweg zu fahren, bereitet nicht so viel Spass wie auf einer Asphaltstrasse. Barfuss durch den Regen zu tanzen ist herrlich, wenn der Weg über eine Wiese geht. Hand in Hand zu gehen, ist machbar, wenn der Weg genug breit dafür ist. Bei jeder Weggabelung halten wir inne und entscheiden gemeinsam. Auch keinen vorgespurten Weg zu nehmen und querfeldein zu gehen, ist eine Wahl.
Dies ist mein Bild von der Beziehung, die ich zu meinen Kindern habe. Ich mag Struktur und mir gibt sie Halt und Sicherheit. Struktur ist in meinem Bild mit dem Weg, den wir wählen, vergleichbar. Die Weggabelung ist die Regel und die damit verbundene Konsequenz, die wir treffen.
Gerne werde ich nun auch konkreter. Es ist mir wichtig, dass wir alle unsere Bedürfnisse äussern können, wir gemeinsam unsere Struktur und unsere Regeln mit den Konsequenzen finden. Dafür nehmen wir uns immer dann Zeit, wenn es gerade aktuell ist und etwa einmal in der Woche haben wir Familienrat, wo wir uns bewusst Zeit nehmen. Dabei nehmen wir uns alle ernst. Jede Äusserung und jedes Gefühl hat gleich viel Gewicht, auch wenn meine Tochter zum Beispiel ihre Anliegen ganz anders äussert als mein Mann. Gemeinsam besprechen wir im Familienrat, welche Struktur, wofür jetzt Sinn macht. Wenn alle mit dieser Struktur einverstanden sind, setzen wir uns eine Probezeit. Danach erörtern wir, ob wir diese Struktur beibehalten, abändern oder eine andere Struktur dafür brauchen. Falls die Struktur geändert oder erneuert wird, geben wir uns wieder eine Probezeit. Wenn wir alle mit der Struktur zufrieden sind, besprechen wir die Konsequenzen, wenn wir diese nicht einhalten.
Meine Kinder haben das Bedürfnis hin und wieder Süsses zu essen. Deshalb gibt es für sie am Mittwoch und an den Wochenende eine süsse Nachspeise. Mein Sohn hat einen sehr weichen Zahnschmelz und es ist deshalb wichtig, dass er regelmässig die Zähne putzt. Das weiss er und beide meine Kinder haben sich entschlossen, nach jedem Essen die Zähne zu putzen. Nach dem Frühstück und dem Mittagessen putzen die Kinder selber die Zähne. Ich sage ihnen, dass es jetzt dafür Zeit ist. Wenn sie ihre Zähne nicht putzen, dann ist das ihre Entscheidung. Am Abend putze ich ihnen die Zähne. Unsere abgemachte Struktur ist für alle sinnvoll. Ich sage ihnen im Voraus, dass ich in fünf Minuten zum Zähneputzen bereit bin und auch wer zuerst kommt, was wir abwechseln. Ich sage ihnen, dass ich jetzt ins Badezimmer gehe. Ich gebe Zahnpasta auf die Zahnbürsten und zähle laut: „Eins, zwei, drei und die letzte Chance, die ist jetzt vorbei!“ Ich erwarte, dass das Kind da ist und ich die Zähne putzen kann. Falls es nicht rechtzeitig da ist, putze ich auch nicht die Zähne. Die Konsequenz dafür ist, dass es bei der nächsten Gelegenheit für Süssigkeiten keine Süssigkeiten gibt, denn ich nehme mir die Zeit zum Zähneputzen, damit die Zähne gesund bleiben und sie deshalb auch ab und zu etwas Süsses dürfen.
Eine grosse Weggabelung war bei uns das Thema Aufräumen. Viele Wege haben wir da schon ausprobiert! Nun befinden wir uns gerade auf einem angenehmen Weg, der für alle stimmig ist. Aber die nächste Weggabelung kommt bestimmt.
Wir räumen jeweils am Mittwoch nach dem Mittagessen gross auf, weil wir am Nachmittag draussen oder unterwegs sind und ich am Donnerstag putze. Ich sage, welches Kind, was aufräumt. Während des Aufräumens mache ich die Küche, räume also auch auf. Wenn die Kinder mich rufen, sage ich ihnen, wo es noch etwas zum Aufräumen gibt oder wo etwas wie versorgt wird. Wenn sie mir sagen, dass es aufgeräumt ist und ich sehe noch Spielsachen, sage ich ihnen nochmals unsere abgemachte Konsequenz. Nicht aufgeräumte Spielsachen sind ihnen nicht (mehr) wichtig und ich kann sie verschenken. Wenn alles in den Kisten eingeräumt ist, versorge ich diese in den grossen Schrank.
Wir brauchen deshalb keine Bestrafungs- oder Belohnungssysteme. Wir entscheiden gemeinsam als Familie und beobachten, wie sich unsere Entscheidung auf uns alle auswirkt. Bestrafung sehe ich mit meinem Bild so: Mein Kind möchte ohne meine Hand über die Steine klettern. Es fällt um. Ich helfe ihm beim Aufstehen nicht. Kaum steht es, versuche ich, es wieder ins Ungleichgewicht zu bringen. Ich möchte ihm klar machen, dass ich Recht habe. Es hat meine Hand nicht genommen und konnte es dann nicht alleine. Belohnung in meinem Bild sieht so aus: Mein Kind möchte ohne meine Hand über die Steine klettern. Es kann es. Weil es das so gut gemacht hat, nehme ich es bei der nächsten Balanciermöglichkeit Huckeback.
Bestrafungs- und Belohnungssysteme machten für mich schon in meiner Lehrtätigkeit keinen Sinn. Meine Schülerinnen und Schüler durfte ich auch eine Wegstrecke begleiten. Die Wege, die wir als Klasse begehen konnten, waren nicht immer frei wählbar. Es gab Wege, die wir nehmen mussten. Dennoch nahmen wir immer wieder bei Weggabelungen bei der wir eine Wahl hatten unsere Wahlfreiheit wahr.
Dazu kommen mir zwei Beispiele in den Sinn.
Ich hatte zwei Schüler die sich den Spass machten, ganze WC-Rollen in die Toiletten zu werfen und zu spülen. Dies hatte eine Überschwemmung zur Folge. Der Schulabwart hatte einen grossen Putzmehraufwand. Da das Besprechen dieser Problematik keine Veränderung brachte, hiess es, zu erfahren, was das Beseitigen ihres „Spasses“ bedeutete. Der Abwart verschloss die betroffenen WCs ohne zu putzen und öffnete dafür andere WCs. Nach dem Unterricht war es an den Jungs gemeinsam die überschwemmten Toiletten zu säubern. Zusätzlich putzten sie auch die restlichen WCs, da sie durch ihre Aktion erst zur Benützung geöffnet wurden. Für die Mehrkosten, die durch das Putzmaterial und die vielen vergeudeten WC-Rollen entstanden waren, halfen sie zusätzlich dem Schulabwart an einem freien Nachmittag.
Einmal hatten wir einen sehr heissen Sommer. Die Schülerinnen und die Schüler baten mich oft, in die Badi zu gehen. So zeigte ich ihnen, welche Lernziele wir noch bis zu den Sommerferien erreichen sollten. Gemeinsam planten wir für die vier verbleibenden Wochen Tagesziele (Etappenziele). Wenn das Tagesziel schon vor der Mittagspause erreicht wurde, besuchten wir am Nachmittag die Badi. Ich war nie mit einer Klasse mehr in der Badi als mit dieser.
Hier noch passend dazu:
Braucht Erziehung Bestrafung und Belohnung? und Man kann sein Kind einfach auch nur geniessen! von Jesper Juul
Fünf Gründe gegen „Gut gemacht!“ von Alfie Kohn
Dieser Artikel wurde am 30. August 2014 veröffentlicht.